VON ELENA BOSHKOVSKA
erschienen in der Leipziger Volkszeitung am 8. Oktober 2019
"Sigmund Jähn ist gestorben. Haben wir darüber schon gesprochen?" Es ist eine kurze Unterbrechung der Probe des Mädchen- und Frauenchores der Schola Cantorum. Nach einem sehr außerirdisch klingenden Lied fragt Chorleiter Marcus Friedrich nach dem verstorbenen Kosmonauten.
"Das ist eigentlich ein Insider-Witz", erklärt er später. Das Stück von Benjamin Britten erinnere ihn an einen Astronauten, der in halber Schwerelosigkeit auf dem Mond tapst. "Ich finde es manchmal erschreckend, wie wenig sich junge Leute mit Themen aus dem Alltag auseinandersetzen – besonders wenn es um Politik geht", sagt Friedrich. Die Aufarbeitung gesellschaftlicher und politischer Themen dürfe nicht nur der Schule oder dem Elternhaus überlassen werden. Deshalb nimmt er sich auch bei den Chorproben die Zeit dafür.
Friedrich studierte Kirchenmusik und Chor- und Orchesterleitung an der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy". Von 2006 bis 2011 war er Kirchenmusiker an der Stadtkirche zu Naunhof. Seit 2011 ist er künstlerischer Leiter der Schola Cantorum. Zu dieser Zeit aber habe der Mädchen- und Frauenchor lediglich 30 Mitglieder gezählt. "Seitdem haben wir ein bisschen gearbeitet und jetzt sind es etwa 80 Sängerinnen", erklärt Friedrich. Dem Chorgesang spricht Friedrich einen ganz besonderen Effekt zu: "Ich glaube, dass er eine befriedende Wirkung hat und durchaus Leute erden kann." Er bedauert jedoch, dass sich der Trend eher von der Musikrichtung, die er unterrichtet, abwendet. "Ich glaube, dass der Zeitgeist so ist, dass mehr Wert auf das Event und die Lautstärke gelegt wird", sagt er.
Chorgesang würde Sänger wie Zuhörer hingegen eher runterfahren. Und egal wie schlecht gelaunt die Mitglieder vor der Probe seien, danach würden sie singend und pfeifend durch die Flure den Weg nach Hause antreten, erzählt Friedrich.
In seiner Chorgruppe würden die älteren Mitglieder die jüngeren durch die Zeiten tragen. "Wo die Jüngeren noch kein Gefühl für Tradition haben, sind die Älteren gute Vorbilder. Die Kombination lässt Raum für technisch anspruchsvolle Sachen", sagt Friedrich. Die Hörgewohnheiten bei den jüngeren Sängerinnen seien anders und sie entsprechend schwer für das traditionelle Repertoire zu begeistern.
Aus eigener Erfahrung könne er nachvollziehen, dass Mitglieder die Chöre deswegen verlassen. "Im Alter von zwölf Jahren kann man nicht wirklich die inhaltliche Tiefe klassischer Musik begreifen", erläutert Friedrich. Er selbst konnte sich im Teenager-Alter nicht vorstellen, mal die Musik von Johann Sebastian Bach zu mögen. Traditionen wolle er aber auch trotz möglicher Abgänge nicht über Bord werfen.
Einen besonderen Akzent hat Friedrich auf die Auseinandersetzung mit Brahms‘ Requiem gesetzt. "Das sind nicht wirklich Fragen, die man sich mit 18 stellt", sagt der Chorleiter. Die zutiefst menschlichen Themen, die Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach dem Ende könne man sich im jungen Alter nicht ausmalen.
Er prophezeit jedoch seinen jetzt noch jungen Schützlingen, dass sie sich in Zukunft gerne daran erinnern werden, diese musikalisch und inhaltlich tiefe Musik selbst gesungen zu haben. "Es ist eben auch unsere Aufgabe, ihnen begreiflich zu machen, wie unglaublich bedeutend die Musik ist", sagt Friedrich.