VON ROLAND H. DIPPEL
erschienen in der Leipziger Volkszeitung am 13. November 2018
Dieser anspruchsvolle Bekenntnis-Kraftakt fällt aus dem Rahmen: Seit Monaten arbeitet die Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" an der Studioproduktion von zwei Opern zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht. Bei der Uraufführung des Kooperationsprojekts mit dem Deutsch-Russischen Zentrum saßen am Samstagabend die Sächsischen Staatsministerinnen Petra Köpping und Eva-Maria Stange sowie Avi Primor, ehemaliger deutscher Botschafter Israels, im Publikum.
Die Idee hatte der Leipziger Regisseur und Autor Markus Gille. Nach Berichten Überlebender und Recherchen in Israel schrieb er die beiden Textbücher, die in den allerletzten Momenten des Zweiten Weltkrieges auf einem Bahnhof im Erzgebirge und in einem Versteck im Ghetto Łódź spielen. Dabei trägt dieser Abend vor allem durch die Musik, die nach der Pause immer mehr in den Vordergrund tritt. Sie und die Szene zwingen zu einer emotionalen Reise in die Abgründe des 20. Jahrhunderts. Die Musik tut das in den drei "Freiberg"-Akten von Dariya Maminova ("Das Kind"), Ido Spak ("Flaschenpost") und Max-Lukas Benedikt Hundelshausen ("Die weiße Stadt") mit zunehmend rauschhafter, sehr freier Tonalität. Doch bei der Entschlüsselung der Figuren und dem, was sich hinter ihnen verbirgt, lässt Gille sein Publikum weitgehend auf sich gestellt.
Dabei ist der Aufwand raumsprengend wie der Inhalt. Auf der linken Fläche der Black Box sitzt ein großes Kammerensemble, die Stimmen der Schola Cantorum Leipzig und der Solisten des Freiberger Kammerchores dringen aus dem Seitenraum. Vom Mittelsächsischen Theater Döbeln-Freiberg kommen Juheon Han, der Dirigent und Komponist des ersten Stücks, und der Bariton Andrii Chakov.
Sein Solo "Letzte Tage Łódź", hier in der Kammerversion für Klavier und Violine anstelle einer großen Orchesterbesetzung, zeichnet mehr die Gedankenspirale im von Todesangst aufgeladenen Warten als die Bedrohung durch Nazischergen, die mit Spürhunden die verborgensten Schlupfwinkel ausheben. Mauerelemente und ein Seitenraum, wo in und an einer bronzenen Truhe die Familie des verfolgten Architekten kauert, sind in Christine Gottschalks Bühnenraum eine Spur zu ästhetisch geraten. Es gibt viel Nebel. Orli Baruchs Kostüme fangen dagegen die Entwürdigung mit ganz einfachen Mitteln ein. Beeindruckend sicher sind alle Solistinnen aus dem Leipziger Masterstudiengang Gesang und Na’ama Shulman als Gast aus Israel.
Der Sog ist groß, doch schon beim starken Schlussapplaus wird die Erinnerung an die gehörte Musik brüchig. Das liegt auch daran, dass im 60-minütigen "Freiberg"-Teil auf Dariya Minonovas eher deklamatorisch akzentuierte Komposition zwei kantatenhaft geweitete Großformen folgen, die den jungen Stimmen beträchtliche Reserven abfordern. Da wird offenbar, dass sowohl "Letzte Tage Łódź" wie auch "Freiberg" eigentlich keine expliziten Bühnenwerke sind. Der als Uraufführungsdirigent erfahrene Ulrich Pakusch hält die Solisten und das mit einigen Musikern aus Freiberg erweiterte Kammerorchester der Hochschule souverän zusammen.
Das muss so sein und trotzdem kristallisiert sich gerade dadurch heraus, dass man es eine Spur zu kalkuliert auf die Betroffenheit der Hörer absieht. Markus Gille greift mit großer Selbstsicherheit nach Gefühlen und verbaut sich so die ehrliche Überwältigung des Publikums, weil er den Weg zur Betroffenheit mit spürbarem Druck erzwingen will. Die HMT zeigt als Rahmenprogramm eine von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Jerusalem (Israel) konzipierte Ausstellung – wider das Vergessen.