VON PETER KORFMACHER
erschienen in der Leipziger Volkszeitung am 4. März 2015
Nein, schön ist das nicht, so eine Kreuzigung. Wir alle ahnten es längst, und spätestens seit Mittwochabend, seit der immerhin anständig besuchten Leipzig-Premiere von Andrew Lloyd Webbers und Tim Rices reisendem "Jesus Christ Superstar", wissen wir es genau. Mit aller Drastik brüllt da Glenn Carter seinen Schmerz heraus, derweil ihm die Nägel in die Glieder fahren, garstig überhöht noch von schneidenden Chor-Dissonanzen aus allen Richtungen.
Ein filmischer Effekt ist das eher als einer fürs Musical, ungeheuer, ja beinahe unerträglich wirkungsvoll, aber auch ein Fremdkörper. Was auch gilt fürs minutenlange Verröcheln und Vergurgeln am Kreuz, das ebenso wenig passen will zur kunterbunten Passions-Revue, die Bob Thomson und Bill Kenwright da unter den strengen Blicken der aufsichtsführenden Urheber Webber und Rice zusammenmontiert haben: aufwendige Massenszenen mit Jüngern und Mob, sauber gestellte Ensemble-Tableaus, selten auch mal ein intimes Solo auf Paul Farnsworths symmetrischer Bühne, die mit quadratischen Riesensäulen ein Jerusalem auf die Bühne zaubert, wie frisch aus dem Sandalenfilm der 60er ins Heute gewachsen.
Durch den läuft, bevor er so unschön endet, der blondgelockte Jesus Christus eher als phlegmatischer Jammerlappen im Nachthemd denn als Superstar. Glenn Carter bleibt in dieser Partie erstaunlich uncharismatisch – in mittleren Lagen auch stimmlich. Ganz oben tendiert sein unten herum so samtenes Falsett zur Hysterie. Und so recht mögen diese Extreme nicht zueinander finden. Das alles führt dazu, dass dieser Jesus von Judas nicht nur verraten und verkauft, sondern auch ohne viel Federlesens an die Wand gesungen wird.
Denn der auch darstellerisch überzeugende Tim Oxbrow ist ein veritables Naturereignis. Während Jesus als frommes Abziehbildchen über die Bühne schwebt, zeigt Oxbrow einen Menschen, einen Charakter aus Fleisch und Blut, einen Getriebenen, einen Verzweifelten. Und so singt Oxbrow ihn auch. Seine ziemlich einzigartige Stimme, die auch im ewigen Schnee noch wandlungsfähig ist, raspelt sich mit dem ersten Ton tief ins Bewusstsein. Dieses Organ sorgt dafür, dass die Musik Andrew Lloyd Webbers, der für diese Partie in seinem wohl besten Musical seine interessantesten Szenen geschrieben hat, phasenweise sogar ein wenig Relief enthält.
Der Rest der auf "Tommys" Spuren "Rockoper" getauften Veranstaltung ist oft gekonnt und immer klug kalkuliert zusammengeschraubt aus Elementen von Soul und Funk, aus Folk und Music-Hall, aus neuem geistlichem Lied und akademischem Fünf- und Sieben-Viertel-Jazz und – alles mit höchster Professionalität vorgetragen: Ob Rebekah Lowings als sanft sinnliche Maria Magdalena oder Alistair Lees giftiger Annas, ob Richard J. Hunts sinnenfroher Thomas oder Tom Gilling als tuntige Herodes-Parodie, ob Steve Fortune als rabenschwarzer Kaiphas oder Christopher Jacobsen als skrupulös zaudernder Pilatus – eine solche Sängerbesetzung muss man erst mal zusammencasten. Zumal das Ganze auch als Chor so gut funktioniert wie als Tanztruppe und sich auch das saubere Kinderchor-Dutzend von der Leipziger Schola Cantorum perfekt einfügt in dieses insgesamt staunenswerte handwerkliche Niveau.
Perfektion zeichnet auch das aus, was die acht Musiker um Tim Withing im Graben aus Rockband nebst Synthies mit Webbers Musik anstellen. Da heult sich rockig Brian Streeters exzellente E‑Gitarre unter die Haut, lassen die Keyboarder aber auch schon mal ein fabelhaft gesampeltes Orchester hören.
So weit so gut – und um so erstaunlicher, dass der Funke dennoch nur selten überspringt, der musikalische Bilderbogen vom Leiden Christi seltsam blutleer wirkt. Das mag auch und gerade an der technischen Perfektion liegen, mit der diese nur noch behauptete „Rockoper“ hier zum Musical blankpoliert wird.
Doch Andrew Lloyd Webber beherrschte natürlich auch vor 40 Jahren schon sein Metier, das Inszenierungsteam besteht aus Könnern des Fachs. Und so garantiert das Mitklatsch-Finale, in dem sich die Spannung der Kreuzigungs-Pein auflöst, am Ende erheblichen Beifall. Zur Pause fiel der noch eher mau aus.
Jesus Christ Superstar in der Oper Leipzig: Vorstellungen heute, 20 Uhr, Samstag 15 und 20 Uhr, Sonntag 15 Uhr, Karten und Infos gibt’s im LVZ Media Store in den Höfen am Brühl Leipzig, in allen LVZ-Geschäftsstellen, über die gebührenfreie Tickethotline 0800 2181050 sowie auf der Internetseite www.lvz-ticket.de und an der Opernkasse oder unter Tel. 0341 1261261.