VON SABINE NÄHER
erschienen in: Chorzeit, Das Vokalmagazin, Nr. 63, September 2019
Dass Johann Sebastian Bach als Thomaskantor in Leipzig wirkte und hier die meisten seiner unsterblichen Werke geschaffen hat, ist allen LiebhaberInnen der Chormusik bekannt. Nicht alle dürften wissen, dass der Thomanerchor 2012 seinen 800. Geburtstag feiern konnte und damit eine der Kulturinstitutionen mit der längsten ununterbrochenen Tradition überhaupt ist. Dass aus seinen Reihen immer wieder Gesangsensembles wie amarcord und das Calmus Ensemble hervorgehen, die Weltgeltung erlangen, verdeckt den Blick darauf, wie ungewöhnlich breit die Chorlandschaft in dieser Stadt generell aufgestellt ist.
«Leipzig ist ohne Zweifel eine der wichtigsten Chorstädte überhaupt. Ich würde sogar sagen, es ist eine Welthauptstadt des Singens», erklärt Dr. Anselm Hartinger. Geboren 1971 in der Messestadt, studierte er hier Geschichte und Musikwissenschaft und arbeitete im Bach-Archiv Leipzig, an der Schola Cantorum in Basel, am Landesmuseum Württemberg in Stuttgart und war Direktor des Geschichtsmuseums in Erfurt, ehe er im April zum Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig bestellt wurde. «In der Vorweihnachtszeit kann man hier in der Stadt mal eben unter gefühlt 40 Aufführungen des Weihnachtsoratoriums wählen. Das gibt es an keinem anderen Ort der Welt!» In der Passionszeit ist das nicht anders. Und hier wird die ganze stilistische Bandbreite geboten: Natürlich sind der Thomanerchor mit dem Gewandhausorchester ebenso dabei wie etliche Spezialensembles für Alte Musik, aber auch unzählige Gemeindekantoreien, für die es Ehre wie Pflicht ist, die großen Werke Bachs mit ihren Mitteln zu stemmen.
Zurück geht diese vielfältige Chorlandschaft auf die große Singebewegung des 19. Jahrhunderts. «Damals bildeten sich die großen Laienchöre, um die oratorischen Werke von Bach und Händel bis zu Mendelssohn aufzuführen», erläutert Hartinger. «Wie in Berlin gab es hier in Leipzig eine Singakademie, es gab den Chorverein von Karl Riedel, es gab den Singverein an der Universitätskirche St. Pauli, wo die großen Oratorien aufgeführt wurden. Und Mendelssohn hatte am Gewandhaus einen eigenen Projektchor, eine Auswahl der besten Sänger aus den Laienchören ringsum.»
MENDELSSOHN PRÄGTE DIE MUSIKSTADT
Denn selbstverständlich wirkte auch Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig, das es als Musikstadt im 19. Jahrhundert ohne weiteres mit Wien aufnehmen konnte. Mendelssohn begründete als Gewandhauskapellmeister den Ruhm der großen Gewandhauskonzerte, wie es sie bis heute gibt. Er war Initiator zur Gründung eines Konservatoriums, dem Vorläufer der heutigen nach ihm benannten Musikhochschule – und er veranlasste die Rückbesinnung auf die Werke der alten, fast in Vergessenheit geratenen Meister. «Nicht zuletzt wegen Mendelssohns Wirken, das über seinen Tod hinaus ausstrahlte, dürfte sich die Singebewegung in Leipzig besonders nachhaltig etabliert haben», vermutet Hartinger.
Mendelssohns Spuren begegnet man – wie denen Bachs – in Leipzig auf Schritt und Tritt. An einem Ort, der auf besondere Weise mit ihm verbunden ist, wirkt die Kantorin und Dozentin Christiane Bräutigam. Die Reformierte Kirche war nämlich die Gemeindekirche der Familie Mendelssohn, da Felix’ Gattin Cécile aus einer hugenottischen Familie stammte. Die Taufbücher der Kinder verwahrt die Gemeinde als besonderen Schatz. Und der reformierte Geistliche hielt die Totenrede bei der Aufbahrung Mendelssohns in der Paulinerkirche 1847, übrigens zu Klängen aus Mendelssohns «Paulus» und Bachs Matthäus-Passion.
Christiane Bräutigam, 1974 in Leipzig als Tochter des Komponisten Volker Bräutigam geboren, studierte in der Heimatstadt und in Lyon Orgel und Kirchenmusik. Seit 1999 leitet sie den Chor und den Kinderchor der Reformierten Kirche. Daneben rief sie das Festival «Klassik für Kinder» inklusive Kompositionswettbewerb ins Leben, das sich größter Resonanz erfreut. Mit dem Kirchenchor, dem aktuell 40 SängerInnen zwischen 20 und 60 Jahren angehören, gestaltet sie im Jahr fünf große Konzerte und bereichert zehn Gottesdienste musikalisch. Das Repertoire reicht von der Vor-Bach-Zeit bis zur Moderne. Und natürlich sind Mendelssohns Werke regelmäßig vertreten. «Hier in Leipzig ist es ganz selbstverständlich, dass man sich einen Chor sucht», bringt Bräutigam ihre Erfahrungen auf den Punkt. Ihr Credo: Singen kann jede und jeder – es gilt eben nur, den für sich passenden Chor zu finden.
ÜBER 100 LEISTUNGSFÄHIGE CHÖRE IN DER REGION
Und da ist die Auswahl groß: Kirchliche und weltliche Chöre halten sich in etwa die Waage, schätzt Anselm Hartinger. «Wir haben sicher weit über 100 leistungsfähige Chöre hier in der Region.» Darunter auch ausgesprochene Exoten wie den Denkmalchor, der im Völkerschlachtdenkmal auftritt und eine ganz eigene Fangemeinde hat. «Der Chor existiert seit den 1920er-Jahren. Er will dazu beitragen, dass das Kriegsdenkmal heute als europäisches Friedensmonument wahrgenommen wird», erzählt Hartinger.
VIELE EX-THOMANER MISCHEN DAS CHORLEBEN AUF
Etwas ganz Besonderes ist auch der Synagogalchor, der sich als weltlicher Konzertchor der Interpretation der jüdischen Synagogalmusik widmet. Und zwar seit DDR-Zeiten! Er wird derzeit von Ludwig Böhme geleitet, Sänger im und Mitbegründer des Calmus Ensembles, der sich daneben mit seinem Kammerchor Josquin des Préz über viele Jahre der viel beachteten Gesamtaufführung der Chorwerke des Préz gewidmet hat. Böhme ist einer der vielen Ex-Thomaner, die sich ein Leben ohne Chorgesang einfach nicht vorstellen können – und das Chorleben der Stadt spürbar aufmischen.
Zu diesen gehört auch David Timm, seit 2005 Universitätsmusikdirektor. Die Universitätsmusik kann in ihrer jahrhundertelangen Geschichte viele klangvolle Namen aufzählen. Natürlich waren Bach und Mendelssohn an dieser Tradition beteiligt. Und im frühen 20. Jahrhundert war Max Reger einer von Timms Amtsvorgängern. 1969 in Mecklenburg geboren, kam Timm als Thomaner nach Leipzig und blieb, um das Musikleben entscheidend mit zu prägen. Die Konzerte seines Universitätschores sind Highlights im Konzertkalender; auch beim Bachfest Leipzig ist er alljährlich vertreten. So stehen sangesfreudige Studierende aller Fakultäten hier neben Weltklasse-Ensembles auf der Bühne. Timms Liebe gilt daneben dem Jazz. Er hat eine eigene Formation, mit der er international konzertiert und gern die Schranken der gängigen Genres einreißt: «Von Bach zu Jazz» lautet ein beliebtes Programm.
Dass auch Die Prinzen Ex-Thomaner sind, sei am Rande erwähnt. Und dass Frontmann Sebastian Krumbiegels Schwester Susanne eine gefragte Oratoriensolistin ist und sein Bruder Martin als Musikwissenschaftler wie als Chorleiter erfolgreich wirkt, ebenfalls. Zu nennen wäre unbedingt auch Ron-Dirk Entleutner. Mit seinen amici musicae, ein von ihm gegründetes wie geleitetes Chor- und Orchesterensemble, gestaltet er seit Jahrzehnten grandiose Konzertprogramme, die regelmäßig in der Thomaskirche wie im Gewandhaus zu erleben sind. Daneben hat der Ex-Thomaner das Jugendsinfonieorchester der städtischen Musikschule zu ungeahnter Blüte – und auf weltweite Konzertreisen geführt.
Dass hier so viele Chöre auf hohem künstlerischen Niveau agieren können, liegt natürlich an der hervorragenden Nachwuchsarbeit. Da gibt es neben dem Leuchtturm Thomanerchor noch sehr viel mehr. Zum einen die Schola Cantorum, bekannt für ihren Mädchenchor, dann den Opern- und den Gewandhauskinderchor. Beide sind in die Arbeit der Institutionen eingebunden, haben also regelmäßig Auftritte auf der Opern- wie der Gewandhausbühne. Ein absolutes Highlight ist dabei die alljährliche, dreimal ausverkaufte und vom MDR-Fernsehen übertragene Aufführung der 9. Sinfonie Beethovens. «Anders als vielerorts gehört Singen in Leipzig noch zum Alltagsgeschehen», erklärt Alexander Schmitt, seit 2018 Leiter des MDR-Kinderchores. «Hier kommen kaum Kinder ohne sängerische Vorbildung, viele sogar mit einem sehr hohen Ausbildungsstand.» Geboren 1984 in Wetzlar, wurde er Limburger Domsingknabe und studierte Chorleitung, Gesang und Gesangspädagogik in Köln und Düsseldorf. Im Rheinland wirkte er als Solosänger wie als Chorleiter. Die Leipziger Chorszene überzeugt ihn mit ihrer Quantität wie Qualität. «Leipzig ist geschichtlich eine zentrale Stadt der Chormusik. Da sind nicht nur Bach und Mendelssohn zu nennen, sondern auch unzählige KomponistInnen, die aus der ganzen Welt hierher kamen, um zu lernen, wie man für Chöre schreibt und mit Chören arbeitet», sagt Schmitt. «Diese Tradition wirkt offenbar bis heute nach. Wo, wenn nicht in Leipzig, sollte das Chorfest 2020 stattfinden?»